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Beitrag 11: Mehr als nur Geld – Arbeit, Sinnhaftigkeit und psychische Stabilität im Rollstuhl

Unsere Arbeit ist selten nur ein Mittel zum Zweck, um den Kühlschrank zu füllen. Sie ist ein zentraler Pfeiler unserer Identität, eine Quelle sozialer Kontakte, eine feste Tagesstruktur und oft auch ein Ort, an dem wir Sinn und Anerkennung finden. Wenn durch einen Unfall oder eine Krankheit die Fähigkeit, den erlernten Beruf auszuüben, verloren geht, bricht weit mehr zusammen als nur das Einkommen. Die psychische Herausforderung, die eigene berufliche Zukunft neu zu gestalten und einen neuen Sinn im Leben zu finden, ist immens.

Der Schmerz des beruflichen Verlusts

Für viele Menschen, die plötzlich auf einen Rollstuhl angewiesen sind, bedeutet dies das abrupte Ende ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn. Der Dachdecker, die Krankenschwester, der Bauarbeiter, die Kellnerin – ihre Jobs sind mit der neuen körperlichen Realität unvereinbar. Dieser Verlust wird oft ähnlich wie der Verlust einer nahestehenden Person betrauert. Man verliert nicht nur die Tätigkeit, sondern auch das soziale Umfeld der Kollegen, den gewohnten Tagesablauf und das Gefühl, gebraucht zu werden und kompetent zu sein. Die Frage „Und was machst du so beruflich?“ wird zu einer schmerzhaften Erinnerung. Dies kann zu einer tiefen Identitätskrise, zu Gefühlen der Nutzlosigkeit und zu schweren Depressionen führen.

Die Hürden auf dem Weg zurück in die Arbeit

Der Weg zurück in die Arbeitswelt ist oft steinig. Selbst wenn man eine Tätigkeit ausüben könnte, die mit dem Rollstuhl vereinbar ist, türmen sich die Hürden auf:

  • Vorurteile bei Arbeitgebern: Trotz aller Antidiskriminierungsgesetze existieren in den Köpfen vieler Personalchefs noch immer Vorurteile. „Ist die Person oft krank?“, „Ist der Umbau des Arbeitsplatzes zu teuer?“, „Ist er/sie weniger leistungsfähig?“. Diese unausgesprochenen Ängste führen oft dazu, dass Bewerbungen von Menschen mit Behinderungen von vornherein aussortiert werden.
  • Barrierefreiheit: Viele Unternehmen sind physisch nicht barrierefrei. Fehlende Rampen, zu enge Türen oder nicht zugängliche Toiletten machen eine Anstellung unmöglich.
  • Die Umschulungs-Falle: Eine berufliche Umschulung, oft finanziert durch die Rentenversicherung oder die Agentur für Arbeit, ist eine große Chance. Sie kann aber auch zur Falle werden, wenn sie in Berufsfelder führt, die nicht den eigenen Interessen und Fähigkeiten entsprechen (z.B. die klassische „Umschulung zum Bürokaufmann“). Eine Tätigkeit auszuüben, die einen nicht erfüllt, kann auf Dauer ebenfalls zutiefst unglücklich machen.
  • Die Angst vor dem Scheitern: Nach einer langen Pause wieder in den Arbeitsalltag einzusteigen, ist mit großen Selbstzweifeln verbunden. „Schaffe ich das noch?“, „Kann ich mit der Technik mithalten?“, „Wie werden die neuen Kollegen reagieren?“. Diese Ängste können lähmend sein.

Sinnhaftigkeit neu definieren: Es muss nicht immer der 40-Stunden-Job sein

Die psychische Gesundheit hängt entscheidend davon ab, eine Aufgabe zu haben, die einem das Gefühl gibt, einen wertvollen Beitrag zu leisten. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig eine bezahlte Vollzeitstelle sein. Die Suche nach Sinnhaftigkeit ist ein kreativer Prozess:

1. Ehrenamtliches Engagement: Sich ehrenamtlich zu engagieren, kann eine unglaublich bereichernde Erfahrung sein. Man kann die eigenen Lebenserfahrungen und Fähigkeiten einsetzen, um anderen zu helfen. Ob als Peer-Berater für andere Betroffene, in der Nachbarschaftshilfe, im Tierschutz oder in einem Kulturverein – ein Ehrenamt gibt Struktur, soziale Kontakte und das Gefühl, gebraucht zu werden.

2. Kreative und persönliche Projekte: Vielleicht ist jetzt die Zeit, dieses eine Projekt zu starten, von dem man immer geträumt hat. Ein Buch schreiben, einen Blog oder YouTube-Kanal zum Thema Inklusion starten, malen, musizieren oder ein Handwerk erlernen, das im Sitzen ausgeübt werden kann. Sich in eine Aufgabe zu vertiefen, die man liebt, ist Balsam für die Seele.

3. Teilzeitarbeit und flexible Modelle: Manchmal ist der Wiedereinstieg über eine Teilzeitstelle oder eine freiberufliche Tätigkeit einfacher zu bewältigen. Dies erlaubt es, die Belastung langsam zu steigern und die Arbeit flexibel an die eigene Gesundheit und Energie anzupassen.

4. Lebenslanges Lernen: Sich weiterzubilden, einen Online-Kurs zu belegen oder eine neue Sprache zu lernen, hält den Geist aktiv und eröffnet neue Perspektiven. Es stärkt das Selbstvertrauen in die eigene Lern- und Entwicklungsfähigkeit.

Die Wiedererlangung von Arbeit und Sinnhaftigkeit ist ein entscheidender Schritt zur Stabilisierung der psychischen Gesundheit nach einem lebensverändernden Ereignis. Es erfordert Geduld, Mut und die Bereitschaft, die Definition von „Erfolg“ und „Arbeit“ neu für sich zu schreiben. Es geht darum zu erkennen, dass der eigene Wert als Mensch nicht von der Produktivität in einem bezahlten Job abhängt, sondern von der Fähigkeit, dem eigenen Leben eine Richtung und Bedeutung zu geben – auf welche Weise auch immer.

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