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Beitrag 3: „Wer bin ich jetzt?“ – Identitätssuche und Selbstbild im Rollstuhl

Eine der tiefsten und subtilsten Krisen, die der Übergang in ein Leben im Rollstuhl auslöst, ist die Identitätskrise. Unsere Identität, unser Gefühl dafür, wer wir sind, setzt sich aus unzähligen Mosaiksteinen zusammen: unserem Beruf, unseren Hobbys, unseren Beziehungen, unseren Werten und nicht zuletzt unserem Körperbild. Wenn ein so grundlegender Aspekt wie die Art, wie wir uns durch die Welt bewegen, radikal verändert wird, gerät dieses Mosaik ins Wanken. Die Frage „Wer bin ich jetzt?“ wird zu einer zentralen und oft schmerzhaften Begleiterin auf dem Weg der Anpassung.

Der Verlust der alten Identität

Viele Menschen definieren sich stark über ihre körperlichen Fähigkeiten. Der Sportler, der Wanderer, die Tänzerin, der Handwerker, der ständig auf den Beinen ist – diese Rollen sind tief im Selbstverständnis verankert. Wenn diese Aktivitäten plötzlich nicht mehr oder nur noch in stark veränderter Form möglich sind, entsteht eine Lücke. Es fühlt sich an, als wäre ein Teil von einem selbst gestorben. Man trauert nicht nur um die Tätigkeit an sich, sondern um die Person, die man war, als man sie ausübte. Dieser Verlust kann zu einem Gefühl der Leere und Orientierungslosigkeit führen. Man schaut in den Spiegel und erkennt sich selbst nicht mehr wieder, weil das äußere Bild nicht mehr zu dem inneren Gefühl passt, das man über Jahre oder Jahrzehnte kultiviert hat.

Auch die berufliche Identität ist oft betroffen. Wenn der bisherige Job aufgrund der körperlichen Einschränkungen nicht mehr ausgeübt werden kann, verliert man nicht nur eine Einkommensquelle, sondern auch eine wichtige soziale Rolle, eine Tagesstruktur und eine Quelle der Anerkennung. Die Frage „Was machst du beruflich?“ wird plötzlich zu einer schmerzhaften Erinnerung an das, was war. Die Suche nach einer neuen beruflichen Perspektive ist nicht nur eine praktische, sondern auch eine existenzielle Herausforderung.

Die Gefahr der Reduktion: „Der Rollstuhlfahrer“

Eine große Gefahr für das Selbstbild kommt von außen. In den Augen vieler Menschen wird die Behinderung zum dominanten Merkmal. Man ist nicht mehr Herr Meier, der Buchhalter mit einem trockenen Humor, oder Frau Schmidt, die leidenschaftliche Gärtnerin, sondern „die Frau im Rollstuhl“ oder „der an den Rollstuhl gefesselte Mann“. Diese Reduktion auf die Behinderung ist eine Form des Ableismus, die tief verletzen kann. Wenn man oft genug so wahrgenommen wird, besteht die Gefahr, dieses fremde Bild zu internalisieren. Man beginnt, sich selbst primär über den Rollstuhl zu definieren und vergisst die vielen anderen Facetten der eigenen Persönlichkeit. Dies kann das Selbstwertgefühl untergraben und zu sozialem Rückzug führen, um diesen reduzierenden Blicken zu entgehen.

Der Prozess der Neukonstruktion der Identität

Die Bewältigung dieser Identitätskrise ist ein aktiver Prozess der Neukonstruktion. Es geht darum, das Mosaik der eigenen Identität Stein für Stein neu zusammenzusetzen. Dies ist keine leichte Aufgabe und erfordert Zeit, Mut und Reflexion.

1. Trennung von Person und Hilfsmittel: Ein entscheidender mentaler Schritt ist die Trennung der eigenen Person vom Rollstuhl. Ich bin nicht der Rollstuhl. Ich bin ein Mensch, der einen Rollstuhl benutzt. Der Rollstuhl ist ein Werkzeug, ein Hilfsmittel, das mir Mobilität ermöglicht – so wie eine Brille die Sehkraft verbessert. Diese sprachliche und gedankliche Unterscheidung ist enorm wichtig, um die eigene Identität nicht auf das Hilfsmittel zu reduzieren.

2. Wiederentdeckung alter und Entdeckung neuer Interessen: Viele Hobbys und Leidenschaften können adaptiert werden. Aus Laufen wird vielleicht Handbiken, aus Fußball wird Rollstuhlbasketball, aus Steh-Gärtnern wird Hochbeet-Gärtnern. Die Suche nach adaptiven Sportarten oder kreativen Ausdrucksformen kann neue Welten eröffnen und zeigen, dass die eigene Persönlichkeit weiterhin Raum zur Entfaltung hat. Manchmal entdeckt man dabei sogar Talente und Interessen, von denen man vorher nichts wusste. Dieser Prozess des Ausprobierens ist ein kraftvoller Weg, neue, positive Identitätsbausteine zu schaffen.

3. Fokus auf unveränderte Werte und Eigenschaften: Wer war ich vor dem Rollstuhl? War ich ein guter Zuhörer, ein loyaler Freund, ein kreativer Kopf, ein humorvoller Mensch? Diese Charaktereigenschaften sind nicht an die Fähigkeit zu gehen gebunden. Sie sind der Kern der Persönlichkeit. Sich diese Stärken bewusst zu machen und sie weiterhin zu pflegen, schafft ein stabiles Fundament für das Selbstwertgefühl. Man erkennt: Der Kern dessen, was mich ausmacht, ist immer noch da.

4. Annahme der neuen Realität als Teil der eigenen Geschichte: Eine reife Identität integriert alle Lebenserfahrungen, auch die schmerzhaften. Das Leben im Rollstuhl ist ein Teil der eigenen Biografie. Es zu leugnen oder zu hassen, bedeutet, einen Teil von sich selbst abzulehnen. Es zu akzeptieren als einen Aspekt, der einen geprägt und vielleicht sogar stärker, empathischer oder weiser gemacht hat, ist ein Zeichen von innerem Wachstum. Man kann eine „Krieger-Identität“ entwickeln – jemand, der eine große Herausforderung gemeistert hat und daran gewachsen ist.

Die Suche nach der eigenen Identität im Rollstuhl ist eine Reise vom Verlust zur Neuschöpfung. Es ist der Weg von „Wer war ich?“ über „Wer bin ich jetzt?“ zu „Wer will ich sein?“. Es ist ein Prozess, der zeigt, dass die menschliche Identität weitaus widerstandsfähiger und flexibler ist, als wir oft annehmen. Sie wohnt nicht in den Beinen, sondern im Herzen, im Geist und in den Taten.

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