Beitrag 14: Stärker als zuvor? Resilienz und posttraumatisches Wachstum
Ein Unfall, eine Diagnose, ein Leben, das von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt wird – das ist zweifellos ein Trauma. Der Fokus liegt in der Folgezeit verständlicherweise auf Bewältigung, Anpassung und dem Versuch, irgendwie wieder zu einem „normalen“ Leben zurückzufinden. Doch was wäre, wenn die Auseinandersetzung mit einer solch tiefen Krise nicht nur dazu führt, dass man wieder auf die Beine kommt, sondern dass man am Ende sogar als ein anderer, in gewisser Weise „stärkerer“ Mensch daraus hervorgeht? Dieses Phänomen wird in der Psychologie als „posttraumatisches Wachstum“ (PTG) bezeichnet und bietet eine hoffnungsvolle Perspektive jenseits des reinen Überlebens.
Resilienz vs. Posttraumatisches Wachstum
Zunächst ist es wichtig, PTG von Resilienz zu unterscheiden. Resilienz wird oft als die Fähigkeit beschrieben, nach einer Krise wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzufedern, wie ein Gummiband, das man dehnt und das dann wieder seine alte Form annimmt. Resilienz ist eine unglaublich wichtige Schutzfähigkeit.
Posttraumatisches Wachstum geht jedoch einen Schritt weiter. Es beschreibt eine tiefgreifende, positive psychologische Veränderung, die als Ergebnis des Kampfes mit einer großen Lebenskrise erfahren wird. Man kehrt nicht einfach zum alten Zustand zurück, sondern entwickelt sich weiter. Der Psychologe Richard Tedeschi, der den Begriff geprägt hat, vergleicht es mit einem Erdbeben: Das Haus ist zerstört, und beim Wiederaufbau baut man nicht genau das gleiche Haus wieder auf, sondern ein neues, das vielleicht anders, aber in mancher Hinsicht sogar besser und stabiler ist.
Wichtig: PTG ist kein „Trostpreis“ und negiert nicht das Leid. Es bedeutet nicht, dass das Trauma „gut“ war. Das Trauma selbst ist immer schrecklich. Das Wachstum entsteht nicht durch das Ereignis, sondern durch den anstrengenden kognitiven und emotionalen Kampf, den man führt, um die Erschütterung der eigenen Grundüberzeugungen zu verarbeiten.
Die fünf Bereiche des Wachstums
Forschungen haben gezeigt, dass sich posttraumatisches Wachstum typischerweise in fünf Bereichen manifestiert:
1. Eine größere Wertschätzung des Lebens: Viele Menschen berichten, dass sie nach der Krise die kleinen Dinge des Lebens viel bewusster wahrnehmen und genießen – den Sonnenaufgang, ein gutes Gespräch, eine Tasse Kaffee. Die Prioritäten verschieben sich. Oberflächlichkeiten verlieren an Bedeutung.
2. Intensivere und tiefere Beziehungen: Eine Krise ist ein Filter für soziale Beziehungen. Man erkennt, wer die wahren Freunde sind. Die Beziehungen zu den Menschen, die einem beigestanden haben, werden oft intimer, ehrlicher und wertvoller. Man ist eher bereit, sich emotional zu öffnen.
3. Ein Gefühl größerer persönlicher Stärke: Die Erkenntnis, eine so schwere Krise überlebt und gemeistert zu haben, führt oft zu einem tiefen Gefühl der inneren Stärke. Der Gedanke „Wenn ich das durchgestanden habe, kann mich so schnell nichts mehr umhauen“ gibt ein neues Selbstvertrauen für zukünftige Herausforderungen.
4. Die Entdeckung neuer Möglichkeiten im Leben: Das alte Leben ist vielleicht nicht mehr möglich, aber das zwingt einen, neue Wege zu gehen. Man entdeckt neue Interessen, schlägt neue berufliche Richtungen ein oder engagiert sich für Dinge, die einem vorher nicht in den Sinn gekommen wären. Man erkennt, dass man mehr Optionen hat, als man dachte.
5. Spirituelle oder existenzielle Entwicklung: Die Konfrontation mit der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit führt oft zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Lebens: „Was ist mir wirklich wichtig?“, „Was ist der Sinn meines Lebens?“. Dies kann zu einer Vertiefung des Glaubens oder zu einer neuen, persönlicheren Form von Spiritualität und einer klareren Lebensphilosophie führen.
Wie kann man Wachstum fördern?
Posttraumatisches Wachstum geschieht nicht automatisch. Es ist ein aktiver Prozess. Einige Faktoren, die es begünstigen, sind:
- Offenheit für Erfahrungen: Die Bereitschaft, sich den schmerzhaften Gefühlen zu stellen und über sie zu sprechen, anstatt sie zu verdrängen.
- Soziale Unterstützung: Ein starkes Netz aus Familie, Freunden und Peers, das einen auffängt und unterstützt.
- Sinnstiftung (Narrativbildung): Der Versuch, der eigenen Geschichte einen Sinn zu geben. Nicht „Warum ich?“, sondern „Was kann ich daraus lernen? Wie hat mich diese Erfahrung verändert?“. Man schreibt die eigene Heldengeschichte.
- Professionelle Hilfe: Ein Therapeut kann helfen, diesen Prozess der Neuorientierung und Sinnfindung zu begleiten und zu strukturieren.
Die Perspektive des posttraumatischen Wachstums ist eine zutiefst hoffnungsvolle. Sie erkennt den Schmerz und das Leid voll an, zeigt aber gleichzeitig auf, dass der menschliche Geist die Fähigkeit besitzt, selbst aus den Scherben eines alten Lebens etwas Neues, Sinnhaftes und Starkes zu erschaffen.
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