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Beitrag 8: Körperbild, Intimität und Sexualität – Die Wiederentdeckung des Begehrens

In einer Gesellschaft, die stark von idealisierten Körperbildern geprägt ist, stellt ein Leben im Rollstuhl eine tiefgreifende Herausforderung für das eigene Körpergefühl, die Wahrnehmung von Attraktivität und die Gestaltung von Intimität und Sexualität dar. Das Thema ist oft schambehaftet und wird tabuisiert, doch die Auseinandersetzung damit ist ein fundamentaler Baustein für eine gesunde Psyche und ein erfülltes Leben. Es geht um die Wiederentdeckung des eigenen Körpers als Quelle von Lust und Begehren, jenseits gesellschaftlicher Normen.

Der Angriff auf das Körperbild

Der Rollstuhl verändert die Silhouette, die Haltung, die Art, wie man sich im Raum präsentiert. Der Blick in den Spiegel kann schmerzhaft sein, weil das Bild nicht mehr dem entspricht, was man als „normal“ oder „attraktiv“ gelernt hat. Muskelatrophie, Narben, eine veränderte Körperhaltung – all das kann zu einem Gefühl der Entfremdung vom eigenen Körper führen. Man fühlt sich nicht mehr begehrenswert, vielleicht sogar asexuell. Dieses negative Körperbild wird oft durch die Außenwahrnehmung verstärkt. Die Gesellschaft tendiert dazu, Menschen mit Behinderungen zu desexualisieren. Sie werden als „süß“, „tapfer“ oder „inspirierend“ gesehen, aber selten als sexuelle Wesen. Dieses von außen übergestülpte Bild zu internalisieren, ist eine große Gefahr für das Selbstwertgefühl.

Die Neudefinition von Sexualität

Die gute Nachricht ist: Sexualität ist so viel mehr als die rein genitale, penetrative Funktion, die in den Medien oft im Vordergrund steht. Für Menschen im Rollstuhl kann dies die Chance sein, eine umfassendere, kreativere und vielleicht sogar tiefere Form der Sexualität zu entdecken.

1. Kommunikation ist der Schlüssel: Mehr als in jeder anderen Konstellation ist offene und ehrliche Kommunikation mit dem Partner oder der Partnerin essenziell. Was fühlt sich gut an? Wo gibt es Empfindungen, vielleicht an neuen, unerwarteten Stellen? Welche Berührungen sind angenehm, welche schmerzhaft? Welche Ängste und Unsicherheiten gibt es auf beiden Seiten? Dieser Dialog baut Vertrauen auf und macht aus zwei unsicheren Individuen ein experimentierfreudiges Team.

2. Entdeckung der erogenen Zonen: Der ganze Körper ist eine erogene Zone. Wenn bestimmte Bereiche aufgrund der Behinderung kein oder nur noch wenig Gefühl haben, können andere umso sensibler werden. Der Nacken, die Ohren, die Hände, die Kopfhaut – die Landkarte der Lust kann neu gezeichnet werden. Es geht darum, neugierig und ohne Leistungsdruck den eigenen Körper und den des Partners neu zu erkunden.

3. Kreativität bei Stellungen und Hilfsmitteln: Die „klassischen“ Sexstellungen sind oft nicht praktikabel. Das erfordert Kreativität. Kissen, Keile und spezielle Möbel können helfen, komfortable und erregende Positionen zu finden. Es geht darum, Lösungen zu finden, anstatt sich auf die Probleme zu konzentrieren. Auch Sexspielzeuge können eine wunderbare Bereicherung sein, um Stimulation auf neue und vielfältige Weise zu ermöglichen.

4. Intimität jenseits von Sex: Intimität ist nicht gleich Sex. Zärtliche Berührungen, Massagen, gemeinsames Baden, intensive Gespräche, sich nackt und verletzlich im Arm zu halten – all das schafft eine tiefe emotionale Verbindung, die die Basis für eine erfüllende Sexualität ist. Manchmal ist es gerade der Aufbau dieser nicht-sexuellen Intimität, der die Türen zu neuem Begehren öffnet.

Umgang mit körperlichen Herausforderungen

Je nach Art der Behinderung gibt es natürlich auch konkrete körperliche Herausforderungen wie Spastiken, Schmerzen, Inkontinenz oder Erektionsstörungen. Auch hier ist es wichtig, Scham zu überwinden und proaktiv nach Lösungen zu suchen. Urologen, Gynäkologen oder spezialisierte Sexualberater können wertvolle Hilfe leisten. Es gibt Medikamente, Vakuumpumpen, und viele praktische Tipps (z.B. Blase vor dem Sex entleeren), die helfen können, diese Hürden zu managen. Wichtig ist die Erkenntnis: Es gibt für fast alles eine Lösung oder einen Weg, damit umzugehen.

Single und auf Partnersuche

Für Singles im Rollstuhl kann die Partnersuche entmutigend sein. Die Angst vor Ablehnung ist groß. „Wer will schon jemanden mit Behinderung?“ ist ein Gedanke, der viele plagt. Hier hilft es, am eigenen Selbstwert zu arbeiten. Wer sich selbst als begehrenswert und liebenswert ansieht, strahlt das auch aus. Online-Dating kann eine Chance sein, aber es ist wichtig, von Anfang an transparent mit dem Rollstuhl umzugehen, um Enttäuschungen zu vermeiden. Ja, es wird Menschen geben, die damit nicht umgehen können. Aber das sind dann ohnehin nicht die richtigen. Es geht darum, den einen Menschen zu finden, der die Person sieht und nicht das Hilfsmittel.

Die Wiederentdeckung der eigenen Sexualität im Rollstuhl ist eine Reise der Selbstannahme. Es ist der mutige Schritt, sich von gesellschaftlichen Schönheitsidealen zu lösen und zu erkennen, dass Attraktivität und Begehren von innen kommen. Es ist die Erlaubnis, ein sinnlicher, sexueller Mensch zu sein – mit allen Facetten, die das Leben mit sich bringt.

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